Auf den Bestseller-Listen der letzten Jahre finden sich viele Titel, die eine alte Idee wieder aufleben lassen, die heute aktueller denn je zu sein scheint: Titel wie „Finde das rechte Maß“ von Anselm Bilgri, „Die Kunst, das rechte Maß zu finden“ von Anselm Grün oder „Mäßigung, was wir von einer alten Tugend lernen können“ von Prof. Thomas Vogel belegen, dass die Suche nach dem rechten Maß die modernen Menschen in allen Bereichen des täglichen Lebens umtreibt. Die LeserInnen suchen Hilfe und Anleitung in der Philosophie von Aristoteles oder bei den Ordensregeln des heiligen Benedikt, nach denen die Benediktinermönche bis heute leben und die genau dort ansetzen, wo die Menschen heute nicht mehr so leicht ein rechtes Maß finden können: z. B. beim Konsum, im Gewinnstreben, bei der Arbeit und beim nachhaltigen Umgang mit den Ressourcen unseres Planeten. Doch woher stammt die Idee, dass wir in allem ein rechtes Maß finden sollen, um gesund, glücklich und zufrieden zu leben?
Aristoteles und die goldene Mitte
Bereits in der Antike war die Idee des rechten Maßes von zentraler Bedeutung. Aristoteles (384 bis 322 vor Christus), einer der bedeutendsten Universalgelehrten der Antike, widmete sich dem Thema in seinem Werk „Nikomachische Ethik“. Wichtigster Bestandteil seiner Schrift ist die so genannte „Mesotes“-Lehre (mesotes – griechisch Mitte), die Lehre von der Tugend als Mitte. Gemäß der Mesotes-Lehre liegt das rechte Maß - die Mitte - zwischen dem Übermaß und dem Mangel. Mit dem goldenen Mittelweg definierte Aristoteles also den idealen Ausgleich zweier Extreme als erstrebenswertes Ziel eines ausgeglichenen Verhaltens. Interessant dabei ist, dass Aristoteles die Mitte nicht als arithmetische Mitte definiert, die von den beiden Gegenpolen, dem Mangel und dem Übermaß, gleich weit entfernt sein muss. Er konstatiert, dass die Mitte (griechisch „arete“) für jeden Handelnden an einem anderen Punkt liegen kann. Das rechte Maß - Arete - ist nach Aristoteles individuell und kein universeller Punkt, der für jeden gleich sein muss.
Mäßigung als Kardinalstugend
Im Mittelalter wurde die antike Idee der Mäßigung wiederbelebt. Der Theologe und Philosoph Thomas von Aquin (1224 bis 1274 nach Christus) orientierte sich an den Denkansätzen der Antike. Zum Thema Genuss hielt Thomas von Aquin fest: „…maßvoll lebt, der also dafür zu sorgen weiß, dass sein naturhafter Genusswille nicht zerstörerisch wird. Durch die Mäßigung wird der Mensch erst innerlich frei und reif, die Maßlosigkeit im Genuss ist ein Ausdruck der Unreife und der Unfreiheit.“
Der „Mäßigung“ als eine der Kardinalstugendenden kam auch im Mittelalter eine hervorgehobene Stellung zu. Benedikt von Nursia (480 – 547 nach Christus) stellte vor rund 1500 Jahren für seine Mönche eine Ordensregel auf, bei der die Tugend der weisen Mäßigung als Mutter aller Tugenden angesehen wurde.
Maß und Mitte – Stoff für viele Bestseller
Vor dem Hintergrund der aktuellen Nachhaltigkeitsdebatte rückt die Idee der Mäßigung und des rechten Maßes unabhängig von religiösen Glaubensrichtungen immer stärker in das Bewusstsein: So wirbt der Erziehungswissenschaftler Prof. Thomas Vogel in seinem Buch „Mäßigung: Was wir von einer alten Tugend lernen können“ für eine neue „Kultur der Mäßigung“ als entscheidenden Schritt gegen das „Streben nach dem Immer-mehr“, um ein „harmonisches, glückliches und autonomes Leben“ zu führen und die natürlichen Lebensgrundlagen nicht zu zerstören.
Auch Anselm Grün, Mönch in der Benediktinerabtei Münsterschwarzach und Erfolgsautor widmet sich dem Thema „Mäßigung“ unter anderem in seinem Buch „Die Kunst, das rechte Maß zu finden“ (2014). Nach Ansicht von Grün gilt das antike Ideal der Mäßigung für uns Menschen auch heute noch. Der Mensch müsse hierfür sein Maß entdecken, das ihm entspricht - nur dann lebe er in Einklang mit sich selbst. Das rechte Maß solle hierbei jedoch nicht nur beim Essen und Trinken beachtet werden, sondern auch in vielen anderen Lebensbereichen Geltung haben, wie bspw. beim Einkaufen, beim Sport, bei der Arbeit oder beim Engagement für andere. Laut Grün gehöre der Verzicht wesentlich zum Menschen dazu. Der Verzicht dürfe jedoch auch nicht absolut gesetzt werden, sonst werde er zur Lebensverneinung. Mäßigung müsse daher keine Spaßbremse sein. Um das eigene Maß bestimmen zu können, solle man laut Grün gut auf das innere Gefühl hören: „Tut mir das, was ich tue, wirklich gut?“ Ein Weg also, um für sich das richtige Maß zu finden, müsse es sein, mit sich selbst in Berührung zu kommen - dann finde man das richtige Maß.
Fazit
Zusammenfassend kann man feststellen, dass allen Lehren vom rechten Maß gemeinsam ist, dass sie keine mathematische Formel aufstellen, wie man das rechte Maß berechnen kann. Sie kennen keine allgemeingültigen Grenzwerte. Das rechte Maß, und das gilt sicher auch für den Genuss alkoholhaltiger Getränke, ist individuell unterschiedlich. Um es für sich selbst zu finden, bedarf es des achtsamen Umgangs mit dem eigenen Körper und Geist. So bekommen wir schnell mit, wann wir die gute Mitte verlassen und uns zu sehr in Richtung eines schädlichen Extrems bewegen. So wie sich der Körper im Laufe des Lebens verändert, verändert sich auch das individuell richtige Maß. Dabei tut uns weder eine extreme Askese noch der übermäßige Konsum gut. Was nicht heißt, dass der einzelne auf der Suche nach dem rechten Maß nicht zu der Entscheidung kommen kann, auf bestimmte Dinge ganz zu verzichten!