Diesen Leitsatz könnte man aus einer aktuellen Studienreihe der Universität Zürich und der Radboud University ableiten. Die ForscherInnen haben einen Fragebogen entwickelt, mit dem sich die Genussfähigkeit messen lässt, und wie sich diese auf das Wohlbefinden der Menschen auswirkt. Überall ist heute die Rede von freiwilligem Verzicht. Man könnte meinen, dass der konsequente Verzicht die moderne Form des Genusses geworden ist. Wer trendy ist, übt sich täglich im Verzicht: auf Fleisch, auf Gluten, auf tierische Produkte, auf Alkohol, auf Zucker, auf Fett, auf kalorienreiche Nahrungsmittel etc. etc. Alles mit dem langfristigen Ziel, den persönlichen Erfolg, das menschliche Dasein, den eigenen Körper und die Gesundheit zu optimieren. Nun sagen die Ergebnisse der Studien von Dr. Katharina Bernecker vom Psychologischen Institut der Universität Zürich und ihrer Kollegin Daniela Becker von der Radboud University in den Niederlanden mehr oder weniger genau das Gegenteil, nämlich dass bewusster Genuss die Menschen zufriedener macht, dass es ihnen somit langfristig besser geht und sie seltener unter Angst oder Depressionen leiden, wenn sie sich Raum für das Genießen schaffen. Voraussetzung für den Genuss und die damit verbundene Lebenszufriedenheit ist es, die langfristigen Ziele einmal nicht in den Fokus der Aufmerksamkeit zu stellen. Die Redaktion von www.massvoll-geniessen.de freut sich, einige Fragen dazu direkt an Frau Dr. Bernecker richten zu können:
Hat der Verzicht als „überkultivierte“ Form des Genusses ausgedient und brauchen wir nun ein Revival des Hedonismus?
Ich glaube schon, dass Hedonismus in unserer Gesellschaft zu Unrecht einen schlechten Ruf genießt und es vielleicht langsam Zeit zum Umdenken ist. Für ein erfolgreiches und zufriedenes Leben brauchen wir beides – Selbstdisziplin, aber auch die Fähigkeit zu genießen.
Noch mal zurück zu den Grundlagen: Gibt es unterschiedliche Genusstypen?
In unserer Forschung sehen wir vor allem, dass genießen nicht so einfach ist, wie man vielleicht glaubt, und dass sich Personen in ihrer Genussfähigkeit unterscheiden. Personen mit einer geringeren Genussfähigkeit werden in schönen Momenten häufiger von störenden Gedanken an ihre langfristigen Ziele und Pflichten abgelenkt. Sie werden z. B. beim Feierabendbier mit den Kollegen an die eine Aufgabe denken, die sie im Büro nicht fertigbekommen haben. Weiterhin konnten wir herausfinden, dass diese Personen über eine geringere Lebenszufriedenheit berichten.
Wie können wir die Qualität von Genussmomenten verbessern, um die Lebenszufriedenheit zu erhöhen?
Die Qualität von Genussmomenten kann unter ablenkenden Gedanken an langfristige Ziele oder Pflichten leiden. Diese Gedanken lassen sich schwer unterdrücken und kommen spontan. Eine mögliche Lösung könnte sein, Genussmomente in den Alltag einzuplanen, um sie besser von konkurrierenden Aktivitäten abzuschirmen. Wenn Sie z. B. bereits im Voraus den Apéro mit den Kollegen planen, können Sie darauf hinarbeiten und dafür sorgen, dass die Arbeit bis zum Feierabend möglichst weit gediehen ist. Falls wirklich Gedanken an sehr dringliche Angelegenheiten ablenken, macht es mehr Sinn, diese zu erledigen, da das Wegschieben der Gedanken vermutlich nicht erfolgreich sein wird.
Wie schafft man eine Balance aus Selbstkontrolle und entspannenden Genussmomenten?
Planen ist hier sicher eine gute Strategie. Wann gönne ich mir eine Auszeit oder etwas, das mir guttut? In unserem hektischen Alltag kommt der Genuss vielleicht manchmal etwas zu kurz. Umgekehrt meint Balance aber auch, dass man Maß halten sollte und sich nicht gehen lässt. Die Forschung zeigt, dass Überfluss eher zu weniger Genuss führt. Weiterhin wird es dann auch wahrscheinlicher, dass der Genuss mit unseren langfristigen Zielen in Konflikt gerät. Mal ein Stück Torte ist kein Problem. Wenn man es übertreibt, hat man auf lange Sicht ein Problem mit der Gesundheit und dann auch mit dem Wohlbefinden.
Was sind nach Ihren Forschungen die wichtigsten Bedingungen für den Genuss?
Bisher haben wir uns hauptsächlich Faktoren auf Seiten der Person angesehen (wie die Fähigkeit zum Genuss, Geschlecht, Alter) und weniger auf Faktoren in der Umwelt. In einer Studie, in der wir Personen in verschiedenen Umgebungen angesprochen haben (z. B. im Café, im Park, in der Natur, nach dem Yoga), zeigte sich aber ein höherer Genuss bei Personen, die in der Natur unterwegs waren. Es gibt schon relativ viel Forschung zum positiven Effekt von Natur auf unsere Stimmung und den Grad der Entspannung. Dieses Ergebnis gliedert sich in diese Literatur gut ein und ist vermutlich nicht nur darauf zurückzuführen, dass wir in diesen Umgebungen auf unterschiedliche Menschen gestoßen sind, die auch unterschiedlichen Aktivitäten nachgingen.
Ist der Gedanke des „Maßhaltens“ schädlich für den Genuss, weil er immer schon den Aspekt der Kontrolle impliziert?
Das ist ein sehr interessanter Gedanke, den unsere Studien tatsächlich nahelegen würden. Aber ich könnte mir auch vorstellen, dass das Wissen um die Seltenheit oder Knappheit eines Moments sogar zu mehr Genuss führen könnte, weil einem der Wert dieses Moments bewusst wird. Um diese Frage zu beantworten, müssten wir also noch mehr Studien durchführen.
Trinken „Genießer“ mehr oder aus anderen Gründen heraus?
Wir haben auch zwei Studien durchgeführt, in denen wir uns Genussfähigkeit und Alkoholkonsum bzw. die Gründe dafür angesehen haben. Wir finden in beiden Studien keinen Unterschied in der Menge des Konsums zwischen Personen mit hoher und niedriger Genussfähigkeit. Die „Genießer“ sind also keinesfalls die „Vieltrinker“. Wir sehen allerdings, dass sich die Gründe für den Alkoholkonsum unterscheiden. Personen mit geringerer Genussfähigkeit nehmen alkoholhaltige Getränke häufiger zum Stressabbau zu sich als Personen mit höherer Genussfähigkeit. Sie scheinen Alkohol also als Mittel zu verwenden um besser „abschalten“ zu können.
Wenn man also die Genussfähigkeit der Menschen verbessern könnte, könnte man also auch tendenziell die Anfälligkeit für einen problematischen, stressbezogenen Konsum senken?
Ja, ich glaube, das könnte eine Möglichkeit sein, um den stressbezogenen Konsum zu senken. Da wir aber noch nicht wissen, ob und wie man die Genussfähigkeit trainieren kann, wäre eine andere Möglichkeit, den Stress zu reduzieren oder Personen andere Strategien der Stressbewältigung zu zeigen. Eine Aufklärung über problematischen Konsum ist in diesem Zusammenhang sicher auch wichtig.
Was ist für Sie persönlich das „richtige Maß“ für den Genuss von alkoholhaltigen Getränken?
Alkohol ist in unserer Gesellschaft ein sehr anerkanntes und weit verbreitetes Genussmittel, und dadurch wird die Gefahr der Sucht häufig unterschätzt. Ich persönlich achte sehr darauf, nur zu ausgewählten Gelegenheiten Alkohol zu trinken und greife auch häufiger auf nicht-alkoholische Alternativen zurück.
Was ist persönlich Ihr größter Genuss?
Ich bin sehr gerne in der Natur und unternehme gerne alpine Bergwanderungen in den Alpen. Auf einen Gipfel zu steigen und von dort die Weitsicht zu genießen, ist etwas ganz Besonderes für mich.